Jülicher Zeitung - Donnerstag, 24. Mai 2018


Ohne zu werten, nimmt das Pferd jeden Reiter an


Therapeutisches Reiten an den Förderschulen des Landschaftsverbandes Rheinland. Festes Therapieangebot an der LVR-Louis-Braille-Schule.


Von MARZENA VOMBERG


Unterstützt von Lehrern und Therapeuten der LVR-Louis-Braille-Schule streichelt Julia das Pferd und begrüßt es.
Bilduntertitel: "Hallo Amigo, schön, dass du da bist. Wir streicheln deine Nase, wir spüren deinen Atem." Julias Reittherapiestunde fängt stets mit einem Begrüßungsritual ihres tierischen Freundes an.


DÜREN/INDEN. "Man erkennt den Wert einer Gesellschaft daran, wie sie mit den Schwächsten ihrer Glie der verfährt." Dieser Satz wird Gustav Heinemann, dem dritten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland, zugeschrieben und bezieht sich unter anderem auf den Umgang mit den Schwächsten der Schwachen: Kindern mit Behinderung. Rheinlandweit wird die Aufgabe einer Hilfestellung und Förderung von Kindern mit physischen und psychischen Handicaps vom Landesverband Rheinland (LVR) erfüllt. Neben der überörtlichen Trägerschaft der Sozialhilfe, der Kriegsopfer- und Schwerbehindertenfürsorge, der Jugendhilfe und den psychiatrischen Einrichtungen gehört auch die landschaftliche Kulturpflege und die Trägerschaft der Förderschulen für Behinderte in dessen Zuständigkeit. An 27 dieser 38 Schulen wird überall im Rheinland die ganzheitliche Förderung der Kinder und Jugendlichen mit Behinderung durch Therapeutisches Reiten unterstützt.

Erfolge und Kosten

Die Erfolge einer Therapie mit Pferden sind nach kurzer Anwendungszeit deutlich sichtbar und vergleichbar in der Wirkung mit der bekannten Delphintherapie. Trotz der erstaunlichen Resultate und der Anerkennung als ganzheitliche Krankengymnastik wird diese Therapieform nicht von den Krankenkassen unterstützt. In diesem Bereich sind sowohl der LVR als auch die Fördervereine der Schulen auf Spendengelder angewiesen. Seit 2002 übernimmt die "Kultur-und Sozialstiftung der Provinzial Rheinland" nachhaltig den größten Anteil der Therapiekosten. Seit Ende der 80er Jahre wird das schulische Reiten als Teil des therapeutisch-pädagogischen Gesamtkonzeptes an der Dürener LVR-Louis-Braille-Schule mit dem Förderschwerpunkt "Sehen" angeboten. "Es handelt sich hier nicht um die sogenannte Hippotherapie", sagt die Sonderpädagogin Johanna Cromme, "diese setzt die Tiere grundsätzlich für Physio- und Ergotherapie ein". Die vom "Deutschem Kuratorium für Therapeutisches Reiten" qualifizierte "Therapeutin für heilpädagogisches Reiten und Voltigieren" spricht von der hier angewandten "Tiergestützten Pädagogik" mit hippotherapeutischen Ansätzen und umfassenden Elementen des heilpädagogischen Reitens. "Die Therapie ist gültig bei allem, was unsere Kinder haben können", erklärt Crom me. "Das Pferd macht die Arbeit", ergänzt sie, "es über- nimmt die physiotherapeutischen Aufgaben." Obwohl der Vierbeiner sein "angeborenes" Talent hervorragend einbringt, wird die Reitstunde auch von Physiotherapeuten wie Laura Benninghaus begleitet. Mehrmals wöchentlich genießen die Schüler der ersten beiden Schuljahre der Unterstufe im Bildungsgang für Mehrfachbehinderte und der Eingangsklasse des Primarbereichs für jeweils ca. 20 Minuten ihre Reitstunde in der Indener "Reitanlage Schagen".

Hallo Amigo

In kleinen Gruppen, begleitet von einem spezialisierten Team aus Sonderschullehrern, Therapeuten und Betreuern, begegnen die schwerst-behinderten oder in irgendeiner Art beeinträchtigten Schüler ihrem Freund Amigo. Amigo ist ein Pferd, das mit geeigneter Größe, dem entsprechend geformten Rücken und einem sanften Gemüt den kleinen Reitern geduldig seine Aufwartung macht. Er kann in seinem Einsatz als Therapiepferd sehr vieles erreichen. Bei Anna, die an Muskelhypotonie leidet, wird die geringe Spannungskraft ihres Körpers erhöht. Die kleine Julia mit einer spastischen Lähmung kann auf Amigos warmen Rücken ihre verkrampfte Bein- und Armmuskulatur wieder ein wenig lockern. Die Therapeutische Wirkung des Reitens im Liegen oder, wenn es möglich ist, im Sitzen, funktioniert in beiden Fällen. "Es ist toll, dass das Pferd dies kann", sagt Reittherapeutin Cromme und erklärt den Hintergrund. Die Schüler, die nicht selbstständig laufen können, machen auf dem Pferderücken eine Bewegung mit, die den menschlichen Gang imitiert und dadurch die sonst nicht beanspruchten Muskeln trainiert. Die Bewegungen eines Pferdes sind dem Bewegungsmechanismus eines Menschen sehr ähnlich. Auch für Marco, der vom Bardert-Biedl-Syndrom beeinträchtigt ist, kann Amigo Nützliches bewirken. Seine unheilbare Netzhauterkrankung, die mit einer fortschreitenden Hirnschädigung einhergeht, wird durch eine Stoffwechselstörung von einer Adipositas begleitet. Er bewegt sich sehr ungern und spricht selten. Doch er weiß, dass Amigo nur aufgefordert seine Runden dreht, also sagt er: "Los". Außer der Sprache wird bei therapeutischem Reiten auch das normale Atmen gefördert. "Während der Therapie normalisiert sich die Atmung, die unseren schwerstbehinderten Schülern sonst ein großes Problem bereitet", erklärt der Schulleiter Wolfgang Franz.

Kräfte fürs Leben

Die wesentliche Aufgabe der Schule sieht Franz darin, "den Schülern eine Möglichkeit zu bieten, durch das Erlernte am Leben teilzunehmen". Damit der Unterricht stattfinden kann, ist die Mobilisierung oder Entwicklung all ihrer Kräfte notwendig. "Das Reiten ist ein ganz wesentlicher Faktor, der diese Energie in einem Kind zum Leben erweckt, welche später zum Lernen in der Schule eingesetzt wird", erläutert der Schulleiter. Bei den von Behinderung beeinträchtigten Schülern ist die Selbstwertschätzung oft gehemmt. Auch hier leistet ein Pferd gute therapeutische Dienste. Es ist groß, und es ist selbstständig, und trotzdem sitzt man darauf und kann es zum Bewegen verleiten. Ein Pferd wie Amigo reagiert auf Menschen, ohne sie zu werten. Es nimmt sie, wie sie sind. Bei den Schülern entsteht eine wichtige soziale Motivation, mit diesem Lebewesen in Kontakt zu treten. Es hat seine eigenen festen Regeln, die auch den autistischen Schülern entgegenkommen. Das sozial-emotionale Verhalten der Schüler wird durch die Therapiepositivbeeinflusst. Von der großen Bedeutung einer kontinuierlichen Therapie auf dem Pferderücken für Kinder mit Behinderung ist auch die Provinzial Stiftung überzeugt. "Eine dauerhafte Förderung des Therapeutischen Reitens an den LVR- Schulen ist sogar in unserer Satzung verankert", versichert die Pressesprecherin Martina Hankammer.

(Anm.: Namen der Schüler v. d. Red. geändert)

Grippenfoto des gesamten Teams
Bilduntertitel: Das Therapeutische Reiten an der LVR-Louis-Braille-Schule in Düren wird in das gesamte therapeutisch-pädagogische Konzept fest eingebunden: (3.v.r.) Schulleiter Wolfgang Franz, (4.v.r.) Sonderpädagogin und Reittherapeutin Johanna Cromme, (3..v.l.) Pressesprecherin der Provinzial Rheinland-Stiftung, Martina Hankammer.


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